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Linien

Das Corporate Identity Program von Heinle, Wischer und Partner

In welchem Verhältnis stehen Kreativität und Gesellschaft? In den 50er und 60er Jahren, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, entstand der Wunsch nach einer Gestaltung, die sich selbst in einem gesellschaftspolitischen Zusammenhang verortete. Entgegen der lange vorherrschenden Idee einer »creatio ex nihilo« wurde kreative Arbeit mehr und mehr als wirkmächtiges Mittel innerhalb sozioökonomischer Verhältnisse begriffen. Dabei geht es sowohl darum, Gestaltung als gesellschaftlich bedingt zu betrachten als auch zu sehen, dass Gestaltung umgekehrt auf diese Umstände rückwirkt. Das Epizentrum dieses wechselseitig gedachten Gestaltungsverständnisses war die international renommierte Ulmer Hochschule für Gestaltung (1953-1968).

Auch das 1962 von Erwin Heinle und Robert Wischer gegründete Architekturbüro Heinle, Wischer und Partner konzipiert Architektur hinsichtlich der Bedürfnisse derer, die sie nutzen. Weder Gebäude noch Gegenstände sollen auf die ästhetische Hülle ihrer Funktion limitiert werden, sondern progressiver Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses sein. An dieser Schnittstelle begegnen sich in den frühen 70er Jahren die Architekten von Heinle, Wischer und Partner und das Team des Gestaltungsbüros von Nick Roericht, der an der HfG Ulm studiert und gelehrt hat.

»Eine gute Corporate Identity wird von ihrer Nutzung aus gedacht – genau wie Architektur.«
Gisela Kasten
Diplom-Psychologin
ehemals Produktentwicklung Roericht (PER)

Kontext

Das Deutschland der 70er Jahre war von politischen Protesten und dem Kampf um die neuen Narrative eines Nachkriegsdeutschlands geprägt. Mit dem Zuschlag für die Ausrichtung der Olympischen Spiele 1968 fiel dem Land die Chance zu, sich der Welt als moderner, zukunftsgewandter Gastgeber zu präsentieren. Dementsprechend groß waren die Bemühungen, mit der Gestaltung der mehrwöchigen Olympischen Spiele eine Kampagne zu lancieren, die über den sportlichen Wettkampf hinaus auch ein neues Image für die damalige Bundesrepublik vorstellt.

1968 wurden Heine, Wischer und Partner mit dem Entwurf des Olympischen Dorfes für die Unterbringung der teilnehmenden Sportler beauftragt. Gleichzeitig entwickelt PER (Produktentwicklung Roericht) Konzepte für die Innenausstattung der Apartments und des Pressehauses, sowie – in Kooperation mit Otl Aicher, dem Beauftragten für visuelle Kommunikation – die Außenausstattung des Geländes. An beiden Enden entsteht die Überzeugung, dass Architektur und Gestaltung interdisziplinär gedacht und ihrer Nutzung entsprechend gestaltet werden müssen. Genau wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der PER fragen HW+P nach den sozialen und gesellschaftspolitischen Dimensionen ihrer Arbeit und verpflichten die Form der jeweiligen Funktion. Gemeinsam entwickeln sie das bis heute gültige Corporate Identity Program (CIP) für Heinle, Wischer und Partner. Und die Zeit bestätigt ihre Vision: Nicht nur das CIP beweist eine enorme Beständigkeit, auch das Olympische Dorf selbst avancierte zu den beliebtesten Wohngebieten Münchens und bleibt es bis heute.

»Für die Olympiade 1972 gab es das Konzept eines »totalen Erscheinungsbildes« – das waren Eintrittskarten und Flaggen, aber eben auch die Möbel in den Wohnungen der Spieler und die Architektur selbst. Es war das erste mal, dass in Deutschland eine so allumfassende, multidisziplinäre Gestaltung entwickelt wurde.«
Michael Burke
Informationsdesigner
ehemals Produktentwicklung Roericht (PER)
Negative eines gemeinsamen Workshops der Produktentwicklung Roericht (PER) und dem Architekturbüro Heinle, Wischer und Partner
Geschichte in Bildern: Dias von einer Präsentation der Entwürfe zum CIP im Architekturbüro Heinle, Wischer und Partner.
Kassetten mit Tonaufnahmen der gemeinsamen Workshops
Für eine lückenlose Dokumentation des Prozesses wurden die Gespräche häufig auf Kassetten aufgenommen. Der iterative Prozess der Entwicklung des CIP I, CIP II und CIP III erstreckte sich insgesamt über drei Jahre.
Ordner in dem Briefwechsel zwischen PER und HW+P dokumentiert wurden
In umfangreichen Ordnern und Heftern wurden die Ergebnisse der Workshops penibel dokumentiert und ausgewertet.
»Das CIP muss eine Visualisierung der inhaltlichen und architekturpolitischen Intention des Architekturbüros Heinle, Wischer und Partner sein.«
Nick Roericht
Gestalter
ehemals Produktentwicklung Roericht (PER)

Konzept

Der Erarbeitung des CIP ging eine umfassende Phase der Auseinandersetzung mit den Organisationsstrukturen von Heinle, Wischer und Partner voraus, während derer verschiedene Notwendigkeiten, Wünsche und Bedürfnisse identifiziert wurden. Auf der Basis von Interviews wurden die inhaltlichen und gestalterischen Grundlagen entwickelt, aus denen sich später das CIP I zusammensetzen sollte. In den darauffolgenden zwei Jahren wurden dem CIP kontinuierlich neue Bausteine für unterschiedliche Anwendungsszenarien hinzugefügt, wobei stets darauf geachtet wurde, viele Mitarbeiter von Heinle, Wischer und Partner in den Prozess einzubinden. So entstand ein multiperspektivisch erarbeitetes Corporate Identity Program, das nun schon seit fast 50 Jahren identitätsstiftend für die Arbeit von Heinle, Wischer und Partner ist.

Für das CIP I, in dem die grundlegenden Gestaltungselemente des Corporate Design festgelegt sind, wurden zunächst drei verschiedene Ansätze vorgeschlagen. Die qualitativen Kriterien, die dieser Ausarbeitung zugrunde lagen, wurden mit den Begriffspaaren »dynamisch / progressiv«, »organisatorisch / intelligent« und »kreativ / flexibel« charakterisiert. Letztlich entschied man sich für das Baumkonzept, dessen wichtigster Träger der Linienbaum ist. Der Linienbaum versteht sich als Analogie zu den Achsen einer offen gestalteten Architektur, die man beliebig erweitern kann und entlang derer sich immer wieder neue Räume und Potentiale entfalten können. Die Idee des Wachsens wird so zu einem Sinnbild des Bauens selbst.

Kontinuität

Der gleichermaßen visionäre wie zeitlose Charme des Corporate Identity Programs wirkt bis zum heutigen Tage fort. Über die Konservierung seiner grundlegenden Gestaltungselemente hinaus beweist es seine Flexibilität durch verschiedene Adaptionen für neuere Medien. So wurden mit der Digitalisierung zwar viele der früher entwickelten Normen und Richtlinien hinfällig, aber niemals vollkommen negiert. Die in den 70er Jahren getroffene Entscheidung für die Schriftkombination aus Helvetica und Courier erweist sich nach wie vor als sachlich-elegante sowie leicht verfügbare Lösung für verschiedene Systeme und Standorte mit anderen Sprachen. Ebenso verhält es sich mit dem Linienbaum, der in seinen unterschiedlichen Formen allen internen und externen Materialien des Architekturbüros eine Struktur gibt, die in ihrem Komplexitätsgrad flexibel an verschiedene Anforderungen und Bedürfnisse angepasst werden kann.

»Eine Corporate Identity ist dann erfolgreich, wenn sie gern benutzt wird und ihre Möglichkeiten erkannt und ausgeschöpft werden. Und es braucht jemanden, der es mit Begeisterung weiterträgt.«
Gisela Kasten
Diplom-Psychologin
ehemals Produktentwicklung Roericht (PER)